Prolog
Piramesse, 1236 v. Chr.
»Die Prinzessin Iryet!«, verkündete der Ausrufer.
Die Wachen zogen die gekreuzten Speere zurück und gaben der jungen Frau den Weg frei.
Ramses atmete erleichtert auf. Sie kommt gerade recht, dachte er und gratulierte sich zu der weisen Entscheidung, die Frau seines Sohnes Simentu zu zwei Strichen vor der Mittagsstunde bestellt zu haben.
Im Thronsaal drängten sich seit dem Sonnenaufgang die Leiter der Regierungsbezirke und die Oberpriester der wichtigsten Tempel des Landes. Die Abgaben für den Pharao waren bereits an den Vortagen den Schreibern übergeben worden. Heute nun hatten sie die Gelegenheit ihrem Herrscher persönlich von den Problemen zu berichten, die es in ihrem Gebiet gab, ihre Wünsche zu äußern und ihm Rechtsangelegenheiten vorzutragen, die der Pharao als letzte Instanz entscheiden sollte.
Wie ein lebendiger Gott saß Ramses auf dem vergoldeten Thron, angetan mit allen Insignien seiner Macht. Bevor der nächste Bittsteller vortreten konnte, gab er dem Tjati einen kurzen Wink mit dem Krummstab. Der zweitmächtigste Mann im Land beugte sich vor.
»Lass uns am Nachmittag weitermachen«, sagte Ramses.
Mit einer Handbewegung gab der Tjati den Beamten das Zeichen die Bittsteller hinauszugeleiten. Mit kaum merkbarem Nicken begrüßte er Iryet.
Die junge Frau trug ein bis zu den Knöcheln herabfallendes Kleid, das von einem breiten Träger über ihrer linken Schulter gehalten wurde. Sie kniete vor ihrem Schwiegervater nieder und senkte den Kopf.
»Lasst uns allein«, befahl Ramses.
Die Diener und Schreiber verließen sofort den Raum. Der Tjati sah den Pharao fragend an, denn er beriet ihn in allen Fragen und war es nicht gewohnt, fortgeschickt zu werden.
»Ich möchte mit ihr allein reden«, erklärte Ramses, wobei er eine Geste in Richtung seiner älteren Söhne machte, die diese ebenfalls hinauswies. Die Blicke, die sie Iryet zuwarfen, als sie den Raum verließen, sagten mehr als Worte.
Als der mächtige Pharao Ramses in seinem zweiundvierzigsten Regierungsjahr kurz vor dem fünften Sedfest seinen Sohn Simentu mit Iryet, der Tochter des reichen Händlers Ben-Anath aus Ugarit, verheiratete, gab es viel Gerede. Zwar war Simentu nur sein dreiundzwanzigster Sohn, dass er jemals den Thron besteigen würde, war höchst unwahrscheinlich, aber ohne Zweifel bekleidete er als Aufseher über die Weingärten des Pharao bereits ein sehr hohes Amt. Es schien unbegreiflich, weshalb dieser Prinz nicht mit einer ausländischen Prinzessin oder zumindest mit einer seiner engeren Verwandten vermählt wurde. Die Könige in Assur und Hattuscha blickten mit Schadenfreude nach Ägypten, als sie von der Verbindung erfuhren. Sie hätten niemals eine einfache Frau aus einem fremden Land als Gemahlin für einen ihrer Prinzen akzeptiert. Das wird im Chaos enden, davon waren sie überzeugt.
Sie behielten recht. Es dauerte nicht lange, bis die ersten Eheprobleme auftauchten. Anfangs bemühte sich Iryet sehr, ihrem Gatten zu gefallen, aber nach einigen Monaten kamen ihr Zweifel, ob diese Ehe den Segen der Götter hatte. Von ihrer Mutter dazu erzogen, eines Tages ein großes Unternehmen zu leiten, war sie es gewohnt selbständig Entscheidungen zu treffen und Probleme auf ihre eigene Art zu lösen. Dabei kümmerte sie sich nicht um die ungeschriebenen Gesetze, die am Pharaonenhof für jedermann galten. Das brachte die Ehefrauen des Pharao gegen sie auf.
Wenn er dem täglichen Gezeter ein Ende setzen wollte, musste Ramses dem Wunsch seiner Familie nachkommen, sie zu bestrafen. Aber er wollte nicht zu hart mit seiner Schwiegertochter umgehen, denn ihn selbst traf eine gewisse Mitschuld an der Lage, in die sie sich hineinmanövriert hatte. Als er hörte, dass der Kapitän Ben-Anath, dem mehrere Handelsschiffe gehörten, lediglich eine Tochter als Erbin besaß, dachte er, die Heirat ihrer Kinder sei eine gute Gelegenheit, eine eigene Handelsflotte aufzubauen. Er hatte nicht erwartet, dass ihm das so viel Ärger einbringen würde.
»Du weißt, warum ich dich rufen ließ?«, fragte er in strengem Ton.
»Ich kann es mir denken. Die Leute tuscheln und machen eindeutige Zeichen. Ich habe nicht gedacht, dass ausgerechnet in deinem Haus so ein Aufhebens gemacht wird, wenn ich mir nur nehme, was mir zusteht«, antwortete Iryet trotzig, ohne den Kopf zu heben.
Ein Lächeln überzog Ramses’ Gesicht. Hatte sie gerade ausgesprochen, was er selbst dachte? Er beugte sich vor und berührte ihre Schultern.
»Steh auf, wir setzen uns dort hinüber.«
Er zeigte zu einem Tisch, auf dem Erfrischungen standen. Bevor er sich zu Iryet setzte, legte er die Haube mit der Uräusschlange, den Kragen und den Zeremonienbart ab, denn er wollte als Vater mit ihr reden.
»Mein Kind, man erzählt mir Dinge über dich, die ich nicht glauben möchte. Unsere Sitten sollten dir bekannt sein, denn sie unterscheiden sich kaum von denen deiner ursprünglichen Heimat.« Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. »Als junger Mensch handelt man oft überstürzt und bedenkt nicht alle Folgen, die sich daraus ergeben. Ich verstehe das sehr gut, denn auch ich war einmal jung und unbedacht.«
Wie immer, wenn er an seine Fehler in den ersten Regierungsjahren dachte, tauchte vor seinem geistigen Auge die hethitische Armee auf, die ihn in Kadesch umzingelt hatte. Nur mit hunderten Inschriften im ganzen Land, die seinen großartigen Sieg verkündeten, hatte er es geschafft, diese Blamage auszumerzen. »Ganz gleich, ob die Gerüchte stimmen oder nur üble Nachrede sind, die Maat ist durch dein Verhalten aus dem Gleichgewicht gebracht worden.« Er sah sie eindringlich an, als er sagte: »Wenn du zu Osiris gehst, möchtest du nicht, dass dein Herz zu schwer auf der Waage der Maat ist, nicht wahr?«
Iryet nickte, denn dem Pharao zu erklären, dass sie vor allem Gaia verehrte und seine Götter ihr ziemlich gleichgültig waren, wäre ein unsinniges Unterfangen.
»Ich will dir helfen, das Gleichgewicht in deinem Herzen und die Ordnung in der Familie wiederherzustellen. Deshalb wirst du für einige Zeit fern vom Hof leben.«
Gerade wollte er ihr erläutern, was das für sie bedeutete und wie sie wieder an den Hof zurückkehren konnte, da platzte der angestaute Ärger aus Iryet heraus.
»Mir hat es hier schon längst nicht mehr gefallen. Mein ganzes Leben ist reglementiert. Jeder Schritt, jede Geste, jedes Wort wird mir vorgeschrieben. Ich fühle mich wie ein gefangenes Tier. Aber damit wird bald Schluss sein, denn meine Mutter wird mich abholen und wir werden Ägypten so schnell es geht verlassen.«
Indem sie das schwarze Land Ägypten nannte, betonte sie absichtlich, dass sie nicht zu seinen Bewohnern gehörte. Kemet war für sie nicht der Mittelpunkt der Welt, sondern nur ein Land südlich der Ägäis.
Schockiert wies Ramses sie zurecht. »Deine Mutter hat keinen Einfluss mehr auf dein Leben. Wo du hingehst, bestimme ich allein. Du wirst mein Land Kemet niemals verlassen.«
»Du willst mich verbannen. Also sollte meine Abreise die Sache doch einfacher machen«, antwortete Iryet irritiert.
In über vierzig Regierungsjahren hatte Ramses eine ganze Menge erlebt. Doch die Ignoranz und Naivität dieses Mädchens gepaart mit ihrer Überheblichkeit überstieg alles. Er konnte seinen Groll kaum noch zurückhalten.
»Mir scheint, du hast nicht viel gelernt, seit du mein Land, das du Ägypten nennst, betreten hast. Meine Kinder verlassen Kemet nicht. Wozu auch? Ihr könnt es nirgends besser haben als hier, wo die Götter uns alles geben. Ich bin dein Vater und du gehst dorthin, wohin ich es dir befehle. Zuverlässige Diener werden dich umsorgen. Dir wird es an nichts mangeln. Wenn einige Zeit vergangen ist, darfst du wieder zu deinem Mann zurückkehren.«
Iryet verstand, dass der Pharao es gut mit ihr meinte. Sicher würde er einen angenehmen Ort auswählen und er würde sie in einigen Monaten wieder mit offenen Armen im Kreis der Familie empfangen. Aber die Aussicht an einem Ort zu leben, wo ihr Leben noch reglementierter war und jede kleinste Verfehlung dem Pharao gemeldet wurde, war für sie keine Option. Schließlich hätte man ihr ohne die ständige Beobachtung durch bestechliche Diener keinerlei Fehlverhalten vorwerfen können.
»Meine Mutter weiß bereits Bescheid. Sie wird mich abholen und nichts in diesem Land kann sie aufhalten«, sagte Iryet zuversichtlich.
Ramses’ Geduld war nun zu Ende. Was denkt sich dieses Mädchen eigentlich? Ihre Mutter wird sie mitnehmen und ich soll ihr gegenüber machtlos sein? Lachhaft!!! Das hier ist mein Reich und nur die Götter sind mächtiger als ich, dachte er.
Er setzte zu einer scharfen Entgegnung an, wurde jedoch von lauten Stimmen im Vorraum abgelenkt. Die Wachen versperrten einem Eindringling den Zugang zum Empfangssaal. Die zierliche Gestalt rollte einen Papyrus aus und hielt ihn den Wachen vor die Nase. Sofort sanken sie auf die Knie und gaben den Weg frei.
Ramses sprang wütend auf. Wie konnte diese Person Gewalt über seine Wachen haben? War dieser Fetzen Papyrus etwa ein Bannzauber?
Iryet blickte zum Eingang. An der Art sich zu bewegen, erkannte sie ihre Mutter. Einen Freudenschrei ausstoßend lief sie zu ihr und umarmte sie. Alkmene schlug die Kapuze zurück. Schwarze Locken umrahmten ihr fein geschnittenes Gesicht.
»Pack deine Sachen!«, befahl sie ihrer Tochter knapp. »Das Schiff legt in Kürze wieder ab.«
»Frau, was erdreistest du dich?«, rief Ramses wütend.
Aber Alkmene ließ sich nicht beirren. »Meiner Tochter wird in deinem Haus nicht die angemessene Ehre zuteil«, sagte sie ruhig.
Ein kämpferisches Blitzen stand in ihren Augen, als sie weitersprach: »Nach dem, was ich erfahren habe, gibt es einen Grund die Ehe zwischen unseren Kindern aufzulösen. Ich habe damals nur sehr widerwillig dieser Verbindung zugestimmt. Heute erfülle ich meiner Tochter mit Freude den Wunsch, dein Land zu verlassen.«
»Dazu hast du kein Recht«, entgegnete Ramses. »Du kannst sie nicht einfach mitnehmen. Meine Kinder befolgen die Regeln meines Landes. Sie verlassen Kemet niemals. Auch, wenn du Iryet geboren hast, musst du dich damit abfinden. Ich habe mit ihrem Vater Ben-Anath einen Vertrag geschlossen.«
Alkmene lächelte. »Den Vertrag kenne ich sehr gut. Mein Mann hat ihn unterschrieben, aber ich habe ihn ausgearbeitet. Wenn du ihn noch einmal genau durchliest, wirst du an eine Stelle kommen, die besagt, dass bei Problemen, deren Ursache im Verhalten oder Versagen eines Partners liegt, der andere die Ehe auflösen kann. Von diesem Passus mache ich heute Gebrauch.«
Ramses beugte sich zu Alkmene hinunter. Dicht an ihrem Ohr flüsterte er: »Simentu will die Ehe nicht auflösen. Iryet soll nur eine Weile abseits vom Hof leben, bis sich das Gerede gelegt hat. Ich will sie nicht hart für ihr Fehlverhalten bestrafen.«
»Aber Iryet möchte nicht mit dem Mann zusammenleben, der der Grund für ihr Fehlverhalten war. Und du wusstest, dass es so kommen würde«, gab Alkmene grollend zurück.
Der Pharao richtete sich hoch auf. »Was glaubst du, wer du bist, dass du so unziemlich mit mir redest.«
»Ich bin die Hera der Telkefti Handelsgesellschaft«, antwortete sie ruhig und entrollte den Papyrus erneut, damit Ramses die Hieroglyphen der Götter lesen konnte, die darauf in bunten Farben zu sehen waren. »Du siehst, diese Urkunde stellt mich unter den besonderen Schutz der obersten Götter Kemets und weist mich als Semher-Wati aus, also als einzigartige Freundin des Pharao.«
Ramses war bekannt, dass sein Großvater Ramses I. aus Dankbarkeit einem geheimnisvollen Gönner den Titel Semher-Wati verliehen hatte, der auch auf seine Nachfolger übertragen wurde. Dieser Gönner hatte dafür gesorgt, dass der damalige Pharao Haremhab ihn erst zum Tjati erhob und später zu seinem Nachfolger als Pharao bestimmte. Ramses II. hatte nie daran gedacht, dass ihm dieses alte Schriftstück jemals vorgelegt werden könnte. Nun wusste er, wem seine Familie den Thron zu verdanken hatte.
Ramses verneigte sich kurz vor Alkmene und sagte feierlich: »Ich verneige mich demutsvoll vor meiner außergewöhnlichen Freundin und Gönnerin des großen Hauses.«
Alkmene nahm den Papyrus wieder an sich und zischte ihm kaum hörbar entgegen: »Nun weißt du, wer ich bin. Die Ehe unserer Kinder war ein großer Irrtum. Ich werde meine Tochter jetzt mitnehmen. Durch sie wirst du keinen Fuß in meine Gesellschaft bekommen.«
Verblüfft zuckte Ramses zurück. Warum hatte ihm Ben-Anath nichts von seiner Frau erzählt?
Alkmene schien die unausgesprochene Frage in seinem Gesicht zu lesen. Sie richtete sich vor ihm würdevoll auf. »Die Telkefti betreibt Handel mit vielen mächtigen Reichen. Unsere Schiffe werden für den Transport der Handelsgüter auf allen Meeren benötigt. Obwohl Kemet ein sehr wichtiger Handelspartner ist, bedeutet es für uns nicht mehr als andere große Länder innerhalb der Grenzen unseres Handelsnetzes. Meine Tochter Iryet wird nach mir die Hera dieser Gesellschaft sein und kein Schwiegervater oder Ehemann wird sie in ihrem Handeln einschränken. Die Regeln deines Hofes gelten nicht für die Leiter der Telkefti. Wenn du Stillschweigen über die Vorkommnisse hältst und ein allgemeines Redeverbot darüber erlässt, verzichte ich auf eine Entschädigung. Wir bleiben weiter Handelspartner, aber die Verbindung unserer Familien ist beendet.«
Der Pharao wollte zu einer Entgegnung ansetzen, aber ein herrischer Wink Alkmenes brachte ihn sofort zum Schweigen. Erschrocken starrte er auf den Armreif, der dabei an ihrem Arm zum Vorschein gekommen war. Das Zeichen des Oktopus hatte auch in seiner Familie große Bedeutung. Nun wusste Ramses, was die Telkefti war und warum diese Handelsgesellschaft seinem Großvater zur Macht verholfen hatte. Resigniert gab er nach.